Viel mehr als das

von Katrin Fritzsche

Anstelle einer Widmung:

Niemals würde ich behaupten, dass Frauen Frauen lieben, weil sie schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht haben. Das wäre schlichtweg zu stark vereinfacht. Lesbische Frauen habe ich als besonders starke Frauen kennengelernt, die den Mut haben, da zu lieben, wo es ihnen wirklich gut tut. Sie sind oft diejenigen, die im beruflichen Sein wahrhaftige soziale Verantwortung tragen, ihre Professionalität genau mit dieser Art des Liebens, mit Wahrhaftigkeit ausfüllen, konsequent und frauensolidarisch. Solidarität - das, was alle Menschen wieder lernen sollten. Sie ist kein Widerspruch zu Selbstverantwortung. Das eine gehört doch zum anderen. Immer aufs Neue solidarisiere ich mich mit den homosexuellen, nicht nur anders liebenden, auch andersdenkenden Menschen.





Kapitel 1

Dies ist ein Geschenk für dich, mein Geliebter. Ich schenke es der Welt, weil du für mich die Welt warst. Irgendwann schaute ich aus der Terrassentür meines Elternhauses gen Süden in den Himmel und begriff, dass die Welt unendlich groß ist, viel viel größer als das, was mir meine Eltern "an Welt" bisher geschenkt hatten. Ich begriff es, weil es dich gab, ganz nah bei mir. Jeden einzelnen Schultag, manchmal auch darüber hinaus durfte ich dir begegnen. Was für ein Glück, mit dir dieselbe Klasse teilen zu dürfen! All meine Liebe wurde durch dich genährt. Selbst wenn du gewollt hättest, du hättest nicht verstehen können. Selbst wenn ich gewollt hätte, ich hätte nicht erklären können. Sei nun still, ganz weit und lausche. Hier ist mein Geschenk für dich. Möge es in dir zum Klang werden, zu einer wunderschönen Musik, mögest du Erleichterung empfinden, wenn sie dich berührt.

Es gibt Menschen, die können noch so sehr verletzt werden: Tief in ihnen drin gibt es etwas Unzerstörbares und dort drinnen fühlen sie immer noch, wer sie sind. Ich habe gespürt, wer ich bin, weil ich dich spürte. Deine Bewegungen waren sichtbar für mich, auch die inneren, die ganz besonders feinen, ja sinnlichen. Immer wieder sah ich dich auf der Schulbank vor mir sitzen, deine Hand legte sich um deinen nackten Hals, so weich, so zärtlich und doch sehr bestimmt. Das war ein Teil von mir, der sich da auf deinen Hals legte, das gehörte zu mir, da war ich mir sicher. Das gehörte zu dem Unzerstörbaren.

Für heute ist es schon spät geworden. Ich werde erst einmal schlafen gehen. Vielleicht wird es eine Nacht sein, in der ich zu Hause ankomme, weil ich von dir träume. Diese wenigen, immer wiederkehrenden Nächte, in denen du mich mit einem Besuch überrascht hast, sie sind der Himmel auf Erden.

Am nächsten Morgen. Ich weiß, dass es keine dieser heiligen Nächte sein sollte, in denen du mit mir bist, ich mit dir bin, in denen wir uns nah sind oder näher kommen, in denen ich mich so ganz und gar zur richtigen Zeit am richtigen Ort fühle. Es hätte auch nicht gepasst. Diese Nächte kommen immer nur dann, wenn du ganz aus meinem Bewusstsein bist. In der Nacht kommt immer das, was am Tag zu wenig Raum hatte.

Es gibt auch Tage, an denen ich auf ganz innige Weise mit dir verbunden bin. Das ist mir zum Beispiel am Freitag, den 13., passiert. Freitag, der 13., ist für mich ein Glückstag. Aus heiterem Himmel frage ich mich, wie das kommt. Und lande bei dir. Du bist an einem 13. geboren. Ich habe diese Tage immer geliebt, deinen Geburtstag aber auch diese Freitage. Vielleicht hast du es sogar einmal gesagt: Freitag, der 13., bringt kein Pech, sondern Glück. Vielleicht aber auch habe ich es mir aus allem, was geschah, zusammengereimt. Freitag, der 13., kann nur ein Glückstag sein. Bist du an einem Freitag geboren?

Es ist so wenig, was ich von dir weiß. Aber es reicht. Es reicht um zu träumen. Um ein halbes Leben lang zu träumen. Nein, keine Angst, verrückt bin ich nicht, jedenfalls nicht mehr. Das schafften sie immer nur für kurze Zeit. Ich lebe, ich habe immer gelebt, es sei denn, ich war mit Überleben beschäftigt. Ich habe Menschen nach dir geliebt. Vor allem Frauen. Von Männern habe ich nicht bekommen, wonach ich suchte. Vielleicht suchte ich zu sehr dich in ihnen.

Damals wollte ich nur dich. Es gab sonst nichts. Nichts, was wirklich wichtig war. In dir habe ich all das gesehen, was ich in meinem Leben brauchte und einfach nicht hatte: Den Geist, die Kunst, den Glauben, die Freiheit und - die Liebe. Das alles gehörte zu mir, zu dem Unzerstörbaren, das irgendwie noch da war. Das Drumherum war weggeschnitten. In Liebe, Anna.


Schwarz - der Kaffee.

Leere.
Durchs Leben irren.
Ohne Plan.
Ohne Halt.
Keine Begegnung, die mich berührt.

Eine Fremde in dieser Welt. So vieles, wozu ich Nein sagen muss.
Es stimmt einfach nicht. Es passt einfach nicht.
Allein sitze ich im überfüllten Café.
Niemand gehört zu mir. Schwarz gekleidet, stilvoll wie immer
und verweinte Augen.

Diese Zeit lässt mich älter werden,
als ich bin. Ich, die Fremde, in einer einsamen Hauptrolle.
Ein doppelter Cappuccino, die Schale mit Milchschaum
bis zum Rand gefüllt, dazu ein Leitungswasser.

Das Land,
aus dem ich komme,
kennt diese Kälte nicht.



Kapitel 2

Geist, Kunst, Glaube, Freiheit und Liebe - der Literatur-Unterricht gehörte dir, mein Geliebter. Der Mathematik-Unterricht gehörte mir. Ich liebte beide. Nicht von unserem Deutsch-Lehrer lernte ich, sondern von dir. Eure Diskussionen, ich weiß noch genau: Einmal ging es sogar um meinen Aufsatz. Mein Puls stieg schlagartig an, als du zu Wort kamst. Der Lehrer, Herr Pusau, kritisierte ihn hart. Du hast mich verteidigt, nein, nicht mit Händen und Füßen - mit Worten. Und du hast Worte gefunden, Worte so schön wie der Morgentau! So etwas hatte ich vorher nie gehört. Da habe ich verstanden, dass Worte wichtig sind. Bisher waren es viel zu viele grausame Worte, die mein Ohr hörte. Vor deinen Worten hatte ich keine Angst. Sie haben alles versprochen. An deinen Worten konnte ich mich fast genauso festhalten, wie an der Sicherheit meiner Zahlen. Du warst gut im Reden, ich war gut im Rechnen. Und ich war zutiefst berührt.

Ich habe auch Worte gefunden. Für dich habe ich meine Gefühle in Worte gefasst und ihnen Ausdruck gegeben. Es war allerdings das letzte Mal, dass wir beide gemeinsam die Schultreppe hinuntergingen, nicht in trauter Zweisamkeit und auch nicht nebeneinander, aber doch - gemeinsam. Am letzten Schultag habe ich für dich Worte gefunden, wichtige Worte, die viel mehr sagen als ein kleines Flirten, manchmal auch zu viel sagen. Aber es musste sein, nie hätte ich mir verzeihen können, wenn ich das nicht geschafft hätte. So lange Zeit hatte ich darauf gewartet, dass du es irgendwie erahnst. Aber wie, wenn ich mich versteckt halte? Nun musste ich dir meine Gefühle zeigen, egal wie schräg es ankommt. Am Tag vorher programmierte ich mich. Das war damals schon eine recht ungewöhnliche Fähigkeit, die ich besaß. Ganz genau malte ich mir die Situation aus. Es brauchte all meinen Mut. Es war wie ein Umschalten meines Systems auf gutes Funktionieren. Ich stellte mich auf der Treppe neben dich und sagte zu dir: "Ich liebe dich." - nicht weniger als das und kein Wort mehr. Er, der Namenlose, hatte mir die Sprache genommen. Er hatte mich so sehr in seinem Wertesystem gefangen gehalten, dass ich ihm "freiwillig" meinen Brief an dich vorgelesen habe und mir von ihm verbieten ließ, ihn abzuschicken. Für ihn war es kein Verbieten, für mich aber fühlte es sich wie ein Verbot an. Er prophezeite mir das Schlimmste, was passieren würde, wenn ich dir den Brief gebe. Aber meine Fähigkeit, mich selbst zu programmieren ... , davon habe ich niemandem erzählt. Das geschah damals auch alles noch sehr unbewusst. Es ist eine der besonderen Überlebensfähigkeiten, die ich entwickeln musste. Irgendwann war sie mir dann brutal im Weg. Ich benutzte sie noch immer, obwohl es gar nicht mehr nötig war.

Meine Erinnerung reicht nicht. Stellte ich mich neben dich? Könnte auch sein, ich stellte mich ein-zwei Stufen unter dich. Du warst kerngesund in meinen Augen. Mit mir aber stimmte etwas nicht. Das spürte ich, ohne dass ich irgendeinen Ausdruck dafür hätte finden können.

Viele Jahre, Jahrzehnte sind seither vergangen. Und mit ihnen erlebte ich viele Menschen, die kamen, Menschen, die wieder gingen, die ich liebte. Es gab Menschen, die ich wie dich wieder loslassen musste, weil ich es nicht besser konnte. Viel zu viele Irritationen, wieder und wieder.

Kürzlich sprach mich eine wildfremde Frau an, sie hatte von meiner Geschichte gehört. Eine Schriftstellerin, oder Journalistin, keine Ahnung, ich kann manchmal nicht so gut zuhören, wenn ich sehr aufgeregt bin. Aber ich lies mich darauf ein. Sie kannte mich aus der Frauen-Lesben-Szene unserer Kleinstadt. Zum Glück war ich vorgewarnt. Sie heißt Bettina, hat bevor sie mich angesprochen hat, eine gemeinsame Bekannte gefragt, ob sie das wohl einfach so tun könne. Als ob ich einer Fliege was zu Leide tun könnte! Bevor ich austeile, muss ich schon lange viel zu viel geschluckt haben, das ist sicher. Eine Fremde hat also alle Chance auf ein friedliches Gespräch. Ja, und das gab es dann auch, ein erstes kleines Gespräch zur Frauenparty, in einem der öffentlichen Discokeller der Stadt. Jetzt treffen wir uns öfter, zum Reden. Sie will meine Geschichte sichtbar machen, auch für dich. Oh, was für eine Erleichterung! Meine Seele atmet auf. Du wirst vielleicht dieses große Warum, mit dem du dein Leben verbringst, verstehen lernen. Warum, weshalb, wofür, aber vor allem wie. Wie konnte es mir passieren, dass ich dieses Mädchen übersehen habe? Deine Resi, mich, eine Anna. Ganz nah war sie bei mir, so viele wertvolle Stunden lang, plötzlich war sie auf der anderen Seite der deutschen Mauer, damals wie für immer unerreichbar. Da war nur noch ein kurzer Austausch per Briefpost möglich. Eine unbeholfene Art des Abschiedes. Vielleicht sogar hättest du gewartet mit dem Heiraten, wenn du gewusst hättest, wie kraftvoll die Montagsdemos in Leipzig sein würden. Das alles habe ich nicht mehr mit dir erlebt. Wenn du gewusst hättest, wie schnell die "durch mich erschaffene" Mauer zwischen uns fallen würde, was hättest du getan? Natürlich habe nicht ich die Mauer ins deutsche Land gebaut. Aber ich brauchte diese Entscheidung weg von dir, um mein Leben weiter zu leben. Es durfte sich einfach nicht mehr alles nur um dich drehen. Es ist doch mein Leben. Irgendwann sind wir uns in Leipzig noch ein letztes Mal begegnet. Ich zitterte am und im ganzen Körper während ich mit dir sprach, habe aber keine Ahnung mehr, was wir gesprochen haben. Bis heute konnte ich nicht die Frage klären, was dieses ostdeutsche Sprichwort bedeutet, das meine Mutter so oft verwendete: Ich habe zu tun, wie der Leipziger Rat. Ist es sächsische Ironie oder hatte der Leipziger Rat wirklich so viel zu tun? Oder drückt es die kranken Werte der Nachkriegskinder, der Generation vor uns aus, dass wir in keinem Fall die Zeit mit Reden vergeuden dürfen. Es gibt ja so viel zu tun. Reden ist völlig überflüssig. Scherz beiseite. Du weißt, dass ich am liebsten alles von dir wissen würde.

Unfassbar schnell war mit der Grenzöffnung zwischen Ost und West das große Wunder der Freiheit da. Nie hätte ich gedacht, dass ich dich wiedersehe, dass ich dich so schnell wiedersehe. Doch dann sahen wir einander wirklich nicht wieder. Das Leben nahm seinen Lauf. Mir blieb nur das Träumen. In Liebe, Anna.


Weiß - die Geburt.

Anna tanzte wie aus einer anderen Welt, dort in der "Sisterzone", als ich sie zwischen den Tänzerinnen entdeckte. Wir waren in einem dunklen Gewölbe, die Discokugel funkelte, als sollten es glitzernde Sterne sein. Für mich war sofort zu erkennen, dass es einige der zahlreich anwesenden Frauen peinlich fanden, wie offen sie tanzte. Jede in ihrer Nähe bekam ein Lächeln geschenkt. Sie suchte regelrecht nach einem gemeinsamen Tanz, einem kleinen Flirt. So sah es jedenfalls aus. Es war ganz klar, dass der Tanz ihr gehörte, niemand etwas dazu hätte sagen dürfen. Ich wusste, dass ich sie kennenlernen muss, mit ihr eine Erfahrung brauche. Etwas später, als sie ungestört auf den Musikboxen saß, sprach ich sie an. Sie kann sich in Windeseile öffnen, alles wird sichtbar. Das wusste ich vorher schon. "Anna Rauscher", stellte sie sich mir mit weit aufgerissenen Augen vor, reichte mir ganz förmlich die Hand, so als wären wir gar nicht in der Sisterzone und schon deswegen natürlicher Weise beim "Du", nein, der Nachname gehörte dazu. "Bettina Schneider", reagierte ich im Automatismus. Ihre unglaublich erotische Ausstrahlung brach in sich zusammen. "Ach, die Journalistin", sagte sie. Wir unterhielten uns, als seien wir leibliche Schwestern, schon Jahrzehnte mit einander verwandt. Blut ist dicker als Wasser. Durch unsere Adern floss deutlich dasselbe Blut. Unser Durst würde lange Zeit nicht gestillt sein. Sie spendierte uns zwei Gläser Sekt, die wir im Stehen tranken. Dann tanzten wir beide.

Wir verabredeten uns zunächst in den Cafés, es war ein ganz sachtes, leises Annähern. Sie trank grundsätzlich Cappuccino mit Leitungswasser, am liebsten einen doppelten, also die Schale mit zwei Espresso gefüllt, darauf der Milchschaum. Das ging nur, wenn es das gewählte Lokal zugelassen hat. Es war zu dieser Zeit noch eine Spezialität, die es nicht überall gab. Ich nahm ein Schorle weiß-sauer, auch wenn wir uns schon mittags trafen. Alles war zu der Zeit noch offen, ich war unentschieden, ob ich wirklich schreiben werde. Es war einfach nur gut mit ihr.

"Mein Leben hat nicht viel Platz zwischen Überleben."
"Zwischen Überleben und was", frage ich.
"Sterben."

Irgendwann verstehe ich sie, das weiß ich. Zuhören, einfach nur zuhören. Sie wird die größten Fragen beantworten, ohne dass ich sie ausspreche. Ich bin erfahrene Journalistin, gebe mir keine Blöße mehr. Auch wenn sich hier deutlich etwas mischt. Ich war nicht nur beruflich unterwegs. Meine eigene Geschichte hatte auch ein privates Interesse.

"Naja, und immer wieder neu geboren werden", fügt sie lächelnd hinzu, als sie meine Unsicherheit bemerkt. Diese Frau kann zaubern, da bin ich mir sicher, denke ich. Jetzt weiß ich auch, warum ich anfänglich so beinahe ängstlich war, sie einfach anzusprechen.

Wir waren immer auf der Suche nach noch ruhigeren Ecken, in die wir uns zurückziehen konnten. Zwischen Sterben. Und Überleben. Cafés in der Innenstadt. Kaffee, manchmal auch Milchschaum, Weißwein, Wasser und dasselbe Blut in unseren Adern, eine Art Seelenverwandtschaft. Alles kam ins Fließen. Tage, Wochen, Monate vergingen wie im Flug.

Neuerdings kommt sie regelmäßig in mein privates Büro, trotz dem ich in einem Stadtteil am anderen Ende der Stadt hause. Gerade jetzt ist sie wie schon die letzten Wochen dabei, mir ihre Geschichte ganz anders zu erzählen. Sie bringt ihre Aufzeichnungen. Ich darf endlich mitschreiben.

Anna fragt mich, wie schwer es Ende der 60er Jahre für eine Frau gewesen sein muss, zu verhüten. "Aber das ist auch gar nicht so wichtig", sagt sie im gleichen Moment, "er wollte nicht verhüten." und Annas Mutter hatte keine Stimme. "Für mich war das mit dem Verhüten nie ein Problem. Er stellte sich zwischen jede neue Liebe, die ich fand. Da er der einzige war, zu dem ich irgendeine Bindung aufbauen konnte, war er auch der einzige, mit dem ich über meine erste große Liebe geredet habe. Ich wusste es nicht besser, dumm war ich. Nein, einsam. Viel zu einsam. Für die Größe an Liebe, die ich in mir trug."

Annas Mutter flüchtete damals aus der kindlichen Abhängigkeit zu einer sehr dominanten Mutter in die Abhängigkeit von einem noch dominanteren Ehemann. Das war das Muster, in dem sie sich zu Hause fühlte: ein Mensch an ihrer Seite, der bestimmt, was sie zu tun und zu lassen hat. Trotz ihrer 25 Jahre war sie kein selbständiger Mensch mit eigener Meinung geworden. Sie spürte es genau und hatte großen Stress damit, wusste sich aber nicht zu helfen. Wie konnte sie da ein Kind wollen? Sie gab sich ihm hin.

"Sein Name, sein Alter, seine Geschichte, all das ist unwichtig. Da gibt es nichts zu verstehen.", sprach Anna über ihren Vater, ich vermute, es ist ihr Vater, von dem sie spricht. Sie nannte ihn den Namenlosen, nicht mal das Wort Vater war gut genug für sie, für ihn. Von ihrer ersten Liebe sprach sie nicht, nur das eine: "Intuitiv wusste ich, dass ich nicht das Schicksal meiner Mutter wiederholen werde. Ich gebe mich nicht unüberlegt hin und wenn es radikal rebellisch zugehen muss. Das wird mein Glück sein: die Unzufriedenheit." Alles, was Anna mir von ihrer ersten großen Liebe zur Verfügung stellte, waren die Liebesbriefe, Liebesbriefe, die sie nur für sich geschrieben hat, keinen einzigen hat sie abgeschickt. Als gäbe es diesen jungen Mann nur in einer anderen Welt, einer Welt, zu der ich keinen Zugang bekam, nicht durch Anna. Durch sie bekam ich nur die Ahnung von dieser Welt. Er ist der Geliebte, etwas ganz anderes als der Namenslose. Das kann Anna gut unterscheiden. Da liegt ein unsagbarer Schutz drauf.

"Bettina, manche Dinge sind unverzeihlich. Vielleicht schaffe ich es mein ganzes Leben nicht, ihm zu verzeihen. Auch wenn es mein größtes Ziel ist." Dem Namenslosen. "Jetzt, Jahrzehnte später, bin ich gerade mal soweit, dass ich meine Wut überhaupt spüren kann, nur im Kleinen, dann gehe ich lieber wieder in die Unterwerfung.", bricht es aus Anna heraus. "Anders halte ich Beziehungen gar nicht aus." Oh, gut zu wissen, denke ich.

"Wenn ich sie im Großen spüre, muss ich sofort jemanden anrufen, weil ich dann Angst vor mir selbst habe."

Er, der Namenlose also, und ihre Mutter zeugten ein Kind namens Anna, unter welchen Umständen auch immer, am besten Anna stellt sich das gar nicht so genau vor. "Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es etwas mit Liebe zu tun hatte.", sagt sie, "mit Abhängigkeit ja, mit Abhängigkeit hatte es viel zu tun. Vielleicht auch mit Gewalt, eine sehr subtile psychische Gewalt, vielleicht auch eine körperliche."

Ich werde immer stiller im Zuhören, es ist so schwer auszuhalten. Die Impulse, sie einfach wieder rauszuschmeißen aus meinem Häuschen werden immer stärker. Zu dieser Zeit aber war ich entschieden. Ich schreibe dieses Buch.

Mit einem Schlag wird auch Annas Mutter immer lebendiger in meinem Haus. Klar, auch sie gehört ja dazu.

Annas Mutter musste vor der Geburt noch mal auf die Toilette, dieses kleine ahnungslose Wesen Anna wollte raus, endlich aus der Geborgenheit des Mutterschoßes in die Welt hinein, in der es nun war. Die Mama wurde leider nicht aufgeklärt, dass es gefährlich ist, in diesem Zustand eine Toilette zu benutzen. Für Anna war es jetzt höchste Zeit. Es war ja schon Mitternacht durch! Und so kam es, dass Anna während dieses Toilettenganges der Mutter kurz vor ihrer eigenen Geburt schon mal den eigenen Arm benutzte, ihn gegen die Grenzen ihres beengten Seins stieß, wodurch die Fruchtblase platzte. Die Fruchtblase platzte, die Mutter, der sie gehörte und die eh schon überängstlich war, erschrak zutiefst, lehnte sich zurück, bediente aus Versehen die Spülung und erschrak noch furchtbarer, denn sie hatte die Vorstellung, ihr Kind in die Toilette zu spülen. Da plötzlich - sie musste auch heftig geschrien haben - standen gleich vier Ärzte um ihre Toilette.

Nein, Anna war nicht hinuntergespült, die eigentliche Geburt stand noch bevor. Annas Mutter hatte nicht nur den riesigen Kopf ihrer Tochter auszuhalten, sondern auch noch das kleine Ärmchen neben diesem Kopf. Anna war entschlossen, mit Kopf und Arm zugleich in diese Welt zu kommen. Das Ergebnis dieser Geburt jedenfalls: Eine Mutter und eine Tochter, getrennt voneinander, auch ohne jede symbiotische Bindung, die ja nach dem Abschneiden der Nabelschnur natürlicher Weise noch lange bestehen bleibt. Das alles kann Anna natürlich nicht erinnern. Es ist nur das, was ihr erzählt wurde, von der Mutter, von Therapeutinnen. Alles nur Vermutungen, oder? Gab es wirklich ein sogenanntes Geburtstrauma oder war ihre Mutter nicht vorher schon komplett von allem überfordert? Oder war alles ganz anders? Eines ist jedenfalls bis heute sicher: Annas Eltern haben viel zu verheimlichen. Anna darf in Gegenwart ihrer Eltern nie von all ihren späteren Erinnerungen sprechen, dann wird es gewaltvoll und das will sie nicht mehr.

Mehrmals sagte die Mutter zu ihrer Anna: "Ich konnte dich nie auf dem Arm halten, du hast dich immer von mir weg gebeugt." Anna kann es auch auf den alten Fotos ihrer Kindheit sehen. Es lag nicht an ihr. Das konnte sie auch sehen. Mit dem Vater hat sie liebend gern gekuschelt. Da war ja so auch erstmal nichts zerstört. Als ihre Mutter von der Entbindung im Krankenhaus zu Hause ankam und Anna auf dem Wickeltisch lag, sagte die Mutter: "Was soll ich nun damit machen?" und die Großmutter erwiderte: "Ich weiß es auch nicht." Diese Geschichte erzählte Annas Mutter immer wieder.

Mit dieser Begrüßung begann Anna ihr Leben und es sollte noch viel schlimmer kommen. Anna schaut mich mit großen Augen an, mit angsterfüllten Augen.

Schweigen.
 
 
„Bin – ich – bei – dir – sicher?“ Anna stellt gern Fragen, die umhauen.

Ich stehe auf, gehe ein Stück durch den mit einander geteilten Raum, der ja eigentlich mein Raum ist. „Warum solltest du bei mir nicht sicher sein?“ Ich weiß, als Journalistin sollte ich diese Abenteuer lieben. Aber eine viel zu große Intimität zwischen der, die recherchiert und der, die die Geschichte liefert, als Abenteuer zu sehen, ist manchmal gar nicht so leicht! Wir sprechen hier ja auch von Annas Sexualität, es geht nicht anders. Keine Ahnung, wie ich diesen Konflikt in mir lösen soll. Da sagt Anna schon wieder was:

„Ich weiß nicht, Bettina, ich kenne dich noch nicht gut genug, vielleicht diskriminierst du das Opfer in mir?“

Ich öffne das Fenster. „Warum sollte ich ein Opfer diskriminieren? Ich werde mich nie mit deinem Vater verbünden. Anna, ich erzähle dir jetzt mal eine Geschichte, die ich von einem Freund kenne, der sich viel mit Wölfen beschäftigt. Weißt du, wie das bei den Wölfen ist? Wenn sich ein Wolf etwas Schreckliches leistet, wenn er einer anderen im Rudel oder einem anderen etwas gefühlt Unverzeihliches antut, dann wird er aus dem Rudel geschmissen. Er wird gezwungen, ganz allein umherzuziehen. Daher kommt ursprünglich der Begriff der `einsamen Wölfin´. Es sind zu mindestens bei den Wölfen nicht die Opfer, die einsam umherziehen.“ Ich schließe das Fenster wieder und setze mich zurück in meinen Sessel.

„Das ist eine schöne Geschichte“, reagiert Anna offensichtlich tief berührt, ein weiteres für mich schwer auszuhaltendes Mal, tief in sich selbst versunken. „Bei mir war es ganz anders. Ich wollte, ich wäre in die gesunde Gemeinschaft eines Wolfsrudels geboren worden.“

Ich habe so einigermaßen die Fassung zurück und stammele zu der, die mir die Geschichte liefert: "Eigentlich wollte ich den Titel des Buches `Die Missbrauchte´ nennen,“ Anna schaut mich fragend an. „aber je mehr ich dich kennenlerne, weiß ich, dass es viel mehr als das ist. Es geht nicht nur um deine Sexualität und um deine Gefühle, es geht um massive Grenzüberschreitungen, um gewaltvolle Ausübung von Zerstörung, um ganz kranke Täterstrukturen, um Angst und Ohnmacht und tiefe Dunkelheit. Eine Dunkelheit, in der ein kleines Licht leuchtet und dieses Licht bist du, dein unverletzter Kern ganz tief drinnen. Das Unzerstörbare in deinen Liebesbriefen. Auch du bist viel mehr als das. Ja, du warst das Opfer ...", höre ich mich sagen. "Ja, es ging um die Gewalt an einem Mädchen, das in der Obhut der Eltern stand, es ging um den Missbrauch dieser Macht. All dies war einmal. Aber was oder wer warst du zuvor? Wer bist du noch jetzt oder wieder jetzt? Es geht in Wahrheit um viel mehr, um viel, viel mehr als das. Es geht auch um viel mehr als um dich und deine Familie."

Offensichtlich bin ich durcheinander. Anna berührt mich zu stark. So ist das, wenn eine die eigene Geschichte nicht mehr aus ihrer aktuellen Arbeit heraus halten kann. Es bleibt mir nichts anderes als meine eigene Geschichte hier mit hinein zu schreiben. Denn alles tue ich doch nur für meine Lony.

Da redet aber Anna schon weiter: "Weißt du, Bettina, ich habe viele Frauen kennengelernt, die meisten haben das mit einem Onkel, einem Bruder oder sonst einer nahe stehenden Person erlebt. Oder sie haben es verdrängt und das Thema an die eigenen Kinder zur Bearbeitung weiter gegeben. Wohl ihnen, denn die Eltern blieben ihnen erhalten, ich suchte mein Leben lang nach Eltern. Und fand sie dann doch nur wieder in diesen Straftätern, ja auch meine Mutter ist - natürlich neben ihrem eigenen Opfer sein, das sie immer wieder betont - eine Straftäterin, so sehe ich das heute. Und bin ich wirklich immer noch bereit, sie zu schützen? Ich schäme mich nicht dafür, dass ich meine Eltern achte, ich sehe auch die guten Eltern, den Teil in ihnen, der mir gutes tat. Und bin sehr stolz darauf! Denn dazu braucht es wirklich Mut. Was ich sagen wollte, ich habe viele von ihnen kennengelernt. Und studiert. Und ich sah fast in einer Jeden eine unglaubliche Begabung. Und wenn ich ganz ehrlich bin, um dieses Trauma herum gab es bei mir noch unzählige andere Traumata. Vielleicht geht es ja gar nicht um meine Eltern und um Bestrafung, sondern wie du so schön sagst: um viel mehr als das."

Ich liebte sie, meine Lony. Sie war mir die Herzallerliebste, so eine bewundernswerte Frau! Ich war ihre Tine. Bis zum Schluss hat sie aufgeschaut zu mir und ich konnte aufschauen zu ihr, bis zum Schluss begehrte ich sie, trotz dem ich mich zurücknehmen musste, weil ihr die Lust am Leben ausgegangen war. Für sie schreibe ich dieses Buch. Für die Frau, mit der ich einst viele Jahre lang glücklich war. Ja, sie war hochtalentiert, eine Künstlerin. Diese Worte aber spreche ich jetzt zu Anna und irgendwie doch auch zu meiner Lony:

"Du bist viel mehr als die Missbrauchte, viel mehr als das Unzerstörbare, viel mehr als ein gewöhnlicher Mensch. Ja, du bist sogar etwas ganz außergewöhnliches, etwas besonderes, das wohl niemand außer dir selbst jemals in der ganzen Fülle deines Seins zu fassen bekommt. Vielleicht deine große Liebe. Geben wir ihr oder ihm die Chance!" Ich brauche irgendwie mal wieder die Distanz zu ihr und werde ganz förmlich: "Schön, dass du jetzt bei mir bist. Lass uns in einer Woche wieder an die Arbeit gehen. Wie sieht es bei dir nächste Woche terminlich aus?“

Sie wühlt nicht in ihrer Tasche, um wie üblich den Kalender zu zücken. Sie überlegt. Dann antwortet sie: „Mit jeder Erinnerung sind auch all die unangenehmen Gefühle wieder da, der Ekel, die Scham, die Angst, vor allem die Angst.“
„Hat er dir denn in der letzten gemeinsamen Wohnung nochmal was angetan?“
„Ich weiß es nicht“, sagt Anna.
„Du weißt es nicht?“
„Ich habe die Ereignisse nur dadurch überleben können, dass ich nicht anwesend war, während sie passierten. Eines weiß ich mit Gewissheit noch: Vor der Familienzusammenführung, die ja letztendlich langsamer passierte, als die Grenzöffnung in den Westen Deutschlands, also einen Tag bevor meine Mama zu uns in den Westen kam ...“
"Was ist da gewesen?"
"Kurz gesagt: Ich überraschte ihn auf der Wohnzimmercouch beim Sex mit einer anderen Frau, irgendeine weitläufig Verwandte, die ich nicht kannte. Er grinste mich an, als sei es nur für mich inszeniert. Es hätte auch sein Schlafzimmer gegeben, da wäre ich nicht hinein gekommen. Ich habe das meiner Mutter erst Jahrzehnte später erzählen können."

„Noch eine letzte Frage, Anna. Was meinst du damit, wenn du sagst, du warst nicht anwesend, als die Ereignisse passierten? Das heißt, du warst gar nicht dabei?“
„Nein, nur körperlich, vielleicht auch geistig, das Meiste habe ich völlig vergessen oder wie die Psychologen sagen: aus meinem Bewusstsein verdrängt. Die Seele spaltete Anteile ab, das passiert! Mein System brachte diese Anteile an einen sicheren Ort. Die späteren Ereignisse ab dem Tod meiner Urgroßmutter blieben vom Erleben an durchgehend in meiner Erinnerung, auch wenn ich Jahrzehnte nicht darüber reden konnte. Irgendwann, naja ..." Anna denkt nach. Dann spricht sie weiter. "... ich war ungefähr zwanzig Jahre alt, da bin ich in eine eigene Wohnung gezogen, es gab eine Frau, mit der ich Liebe machte. Danach hielten wir einander in den Armen. Über den Körper erinnere ich. Das erste Mal wagte ich die ersten sechs Worte: Mein Vater hat mich sexuell missbraucht.“

Der Namenlose also ist ihr Vater, so wie ich es die ganze Zeit geahnt habe. Was für ein schwieriges Wort das Wort Vater für sie sein muss, denke ich da. Mal ganz abgesehen von den anderen Worten, die ein solcher Satz aus sechs Worten braucht.

„Also gut“ , sage ich. „Ich hoffe, unsere Arbeit nimmt dich nicht zu sehr mit.“ Irgendwie muss ich für heute einen Punkt mit Anna finden.

„Bettina, ich muss gut aufpassen, ich muss aufpassen, dass ich weiter meinen Alltag lebe, dass ich Freude an dem habe, was ich im Alltag tue, dass ich mich nicht verliere in dem, was war. Es passiert viel zu oft.“

„Ja“ , sage ich zu Anna, innerlich sehr genervt. Meine Lony hätte mich nie mit ihren Abgründen belastet. Es liegt wohl daran, dass das hier eher eine geschäftliche Beziehung ist. Ich bin müde. Geradeso schaffe ich es, noch freundlich zu bleiben. "Lass uns achtsam sein. Du hast es geschafft, erwachsen zu werden und für dich zu sorgen und du glaubst gar nicht, wie sehr ich dich dafür bewundere.“

Am nächsten Tag klingelt mein Telefon.
„Bettina Schneider“, melde ich mich.
„Hallo, hier ist Anna.“
„Hallo, Anna, schön dass du anrufst, wie ging es dir gestern noch, konntest du schlafen?“
„Bettina, es tut mir leid, ich kann das nicht, es geht nicht für mich, ich werde nicht wieder zu dir kommen.“
„Oh, damit habe ich nicht gerechnet.“ Das war mal ehrlich von mir. Ich schweige.
Anna schweigt.
„Anna?“
„Du hast es doch gemerkt, auch die Male davor. Es strengt mich so sehr an. Bettina, es strengt mich so sehr an, von dieser grauen Kindheit zu reden.“
„Eine Kindheit sollte weiß sein, voller Weiß, viel Schnee, viel Sonne, viele wunderschöne Wolken am Himmel ... Wir müssen nicht über deine Kindheit reden. Anna, darf ich dich was fragen?“
„Ja frag, ich muss ja nicht antworten.“
„Hast du je in deinem Leben so richtig Liebe gelebt?“
„Ja.“
„Du brauchst mir nur noch davon zu erzählen, sonst nichts mehr.“
„Ich überlege es mir, sorry, brauche jetzt einfach nur mich, muss mich suchen gehen.“, sagt sie und legt auf.

Ich setze mich erst einmal, halte es kaum aus, ihr nicht helfen zu dürfen. Auch mich berührt es viel zu tief. Könnte ich ihr denn helfen? Ich sehe genau, wie sie am anderen Ende der Stadt in ihrer einsamen Wohnung eine Flasche Rotwein öffnet, einfach nur, um wieder Boden zu finden. Auch ich muss erstmal wieder zu mir kommen. Und dennoch, das Beste, was mir dazu einfällt, ist wieder nur das Eine. Ich wische die Tränen weg, nehme meine Wut als pure Kraft, gehe an die Arbeit, um zu wandeln, was gewandelt werden will. Und bin gewiss, so helfe ich ihr. Wenn sie nach dem Rausch zu sich selbst zurück kommt, wird sie dort in ihrer Wohnung wieder mit mir schreiben: einen weiteren Liebesbrief an den Geliebten.



Kapitel 3

Nachdem ich dir die drei großen Worte sagte, hast du mich umarmt, mein Geliebter. Eine innige Umarmung. Damit hatte ich nicht gerechnet. Die so lang ersehnte Nähe war nicht auszuhalten, es war einfach zu schön. Ich musste mich aus der Umarmung lösen. Du hattest keine Gelegenheit zu sprechen. Ich flüchtete in den Umkleideraum der Mädchen, denn unsere aller letzte Stunde an der gemeinsamen Abiturschule im damaligen Osten Deutschlands war Sportunterricht ...