Ein weiter Weg

von Katrin Fritzsche

„Jetzt können wir von dem reden, das mich all die Jahre am Leben gehalten hat“, sagt Anna, „von meinem Mut, mich immer wieder ganz und gar auf neue Menschen einzulassen, von meiner Sehnsucht nach Nähe.“
„Ich wusste, dass es in deinem Leben mindestens eine Liebesgeschichte gibt“, antworte ich. „Ich wusste es, schon weit bevor ich danach fragte.“
Und dann haben wir uns Nachmittage lang in Annas schönsten Erinnerungen verloren. Teilweise erzählte sie frei, aber auch ihr Tagebuch war immer mit dabei. Ich hörte einfach nur zu und träumte mich hin zu meiner Lony:


1 Das Boot zum anderen Ufer (Anna und Katta)

"Für manche von uns steht es irgendwann da: das Boot zum anderen Ufer. Ich habe mich hineingesetzt und bin einfach mal rüber gefahren auf die andere Seite. Lange, lange Zeit danach noch habe ich gesagt, dass das nicht meine Seite ist. Obwohl ich ständig dort war und mich wohl fühlte. Katta war dieses Boot für mich, die Schwester meiner besten Freundin, eine sehr feinfühlige Frau, im Zeichen der Fische geboren. Wir lernten uns auf einer Party kennen. Sie tanzte barfüßig. Das erste, das mir einfiel, um ihr näher zu kommen, war, ihre Füße zu waschen. Ich nahm sie mit in die Toilettenräume und berührte gemeinsam mit dem fließenden Wasser ihre Füße. Wir waren also von Anbeginn zu dritt, sie, das Wasser und ich.

Wie ich hörte, war sie eine in der Kirche sehr aktive Frau, auffällig bunt gekleidet, provokativ, etwas Soziales studierend und ich wusste, dass sie lesbisch ist. Ich konnte nicht anders, ich wollte ihr nah sein, so nah wie möglich. Alles, was diese Frau umgab, interessierte mich. Ich kannte es nicht und wollte es kennenlernen. Ich war eine Fremde und wollte das Fremde.

Es war wunderbar, die Anziehung war auf beiden Seiten und wir ließen uns aufeinander ein. Endlich war da ein zweiter Mensch bei mir, jemand, der zu mir gehörte. Katta war meine erste wirkliche Liebesbeziehung. Wir waren blutjung. Sie lebte damals noch in meiner Heimatstadt, ich war schon so weit gereist, dass ich gute fünfhundert Kilometer entfernt arbeitete und wir konnten unsere Sehnsucht in vollen Zügen genießen. Wir schrieben Briefe, seitenlang, ganz viele und sehnten uns nach dem nächsten Wiedersehen.

Mit ihrer Ausbildung konnte sie dann einen Umzug zu meiner so weit entfernten Arbeitsstelle und Wahlheimat verbinden. Katta suchte sich einfach eine Ausbildungsstelle bei mir. Natürlich gefiel mir das, und wie! Sie war etwas älter als ich, unwesentlich. Als sie dann immer wieder in meiner ersten eigenen Wohnung saß, war dies das erste Mal, dass ich ihn ganz und gar aussperren konnte. Er benahm sich einfach gar nicht mehr und war mir egal geworden. Nicht mein Geliebter, nein, der war mir nicht egal, ganz im Gegenteil. Katta hatte seine Werte, ich kam ihm nur näher damit, glaubte ich oder besser gesagt fühlte ich damals - wohl eher unbewusst. Nein, ich meine ihn, der mich zu erziehen versuchte. Er rebellierte. Er mochte es nicht, dass ich mit dieser doch so anderen, im Gegenteil zu mir eher unangepassten Frau zusammen war. Er sprach nicht mehr mit mir. Die versprochene Wandbegleitung aus Holz musste ich jemand anderen machen lassen. Etwas in mir war nur froh, fühlte sich endlich unabhängig von ihm. Er beanspruchte mich als sei ich seine Liebste, seine Geliebte, aber das war ich nie! Das wollte ich auch nie sein.

Und doch: ich war nicht lesbisch. In meinen Augen bevorzugte ich immer noch Männer. Lesbisch war Katta, ich habe nur mitgemacht. So komische Worte habe ich damals dafür gefunden. Freilich, ich hatte mich auf Männer eingelassen und lies mich auch nach ihr noch auf Männer ein. Ich wusste nicht, dass ich auf der Suche nach Schoss-Raum-Heilung war, ich hatte ja damals keine Ahnung davon, wie stark verletzt ich war. Oder besser ausgedrückt: Ich musste dieses Wissen verdrängen, weil ich längst erkannt hatte, dass es dies in meiner Welt nicht gab. Es gab keine Heilungsräume, ich konnte nichts erkennen, wusste ja gar nicht, wonach ich suchte. Heilung war einfach nicht „im Angebot“. Wo hätte ich denn hingehen sollen? Wen hätte ich denn was fragen sollen? Wenn Verdrängen ein Verbrechen ist, dann habe ich mich wohl schuldig gemacht. Möge ich all das zwischenzeitlich wieder gut gemacht haben! Wahrlich, daran habe ich hart gearbeitet. Aber dieses Vertrauen, das ich zu ihr hatte, zu meiner lieben Katta, konnte ich zu keinem Mann haben. Ich habe sie wahrhaftig geliebt, als meine ganz nahe Freundin. Aber leider hatte ich das andere Ufer kennengelernt und wusste, wo ich das Boot dorthin finde.

Was ich damals nicht wusste, war, dass ich die Abhängigkeit von ihm, der mich verzogen und missbraucht hat, nur mit der Abhängigkeit von Katta ersetzt hatte. Obwohl ich genau das nicht wollte, tat ich es meiner Mutter gleich. Ich ließ mir viel zu viel von Katta gefallen. Andere Vorbilder als die vertraute Mutter gab es nicht groß. Mit wem hatte ich mich denn schon zutiefst vertraut gemacht, es war ja wie nicht möglich. Längst war ich nicht zu einem Menschen geworden, der fähig ist, in Freiheit zu leben und zu lieben."


2 Vergessen und verdrängt, kaum ein Erinnern (Wolfgang und Anna)

„Auf dem Weg zu dir bin ich bei Wolfgang gelandet“, beginnt Anna heute ihre Erzählungen. „In Gedanken habe ich dir im Auto schon alles erzählt. Meine Güte berührt mich das. Ich habe 20 oder sind es 25, es könnten bald schon 25 Jahre sein, ich hab ja 25 Jahre lang vergessen, wie viel ich für diesen sehr außergewöhnlichen Typen empfunden hatte und wie schön das mit uns war. Wie konnte ich das nur vergessen? Vor lauter Sehnsucht und vor lauter Pflichten jeden Tag habe ich das vergessen und vor lauter Konflikten mit dem Mann an sich. Vielleicht auch, weil ich einfach lesbisch bin.“
„Hast du eine Beziehung mit ihm gelebt?“, frage ich. „Ja, ich habe ihn wirklich geliebt und er hat mich geliebt, das weiß ich. Über alles. So wie er, ich meine so stark und bedingungslos wie er hat mich sonst kein Mann geliebt. Als hätte er erkannt, wer ich wirklich bin.“
„Auch körperlich?“, muss ich da einfach ganz neugierig fragen.
„Nun, unsere Beziehung hat keine zwei Jahre gedauert. Es gab mindestens ein Problem zwischen uns. Ich konnte nicht mit ihm schlafen. Ich konnte kuscheln mit ihm, ich konnte auch neben ihm, auch mit ihm und in seinen Armen schlafen, ich konnte Sex mit ihm haben, ja. Solange es um meine Sexualität ging, war alles in Ordnung zwischen uns. Ich konnte bei ihm schlafen, in seinem Häuschen sein, ja. Es war unsagbar schön, mit ihm verbunden zu sein. Aber ich konnte nicht mit ihm schlafen. Ich wollte ihn nicht ganz und gar. Er hat mich glücklich gemacht, aber ich konnte ihn nicht glücklich machen. Da war einfach der Trigger seiner Männlichkeit. Ich konnte nur, dadurch mit ihm zusammen sein, dass ich sein Geschlecht übersah.“
„Habt ihr darüber gesprochen?“
„Nein, einmal sagte er, dass er mir etwas sehr Wichtiges zu erzählen hätte. Es würde ihm aber wahnsinnig schwer fallen.“ Es war verrückt. Er wollte, dass ich mit ihm in seinem Auto auf der Autobahn fahre. Er dachte, da ginge das Reden, da würde was ins Fließen kommen. Nun eine Autobahn ist ein großer Strom, aber eben doch kein Fluss, mussten wir feststellen. Wir sind vielleicht eine halbe/eine ganze Stunde gefahren und ich konnte das Schweigen nicht mehr aushalten. Er verlangte zu viel. Wir mussten umdrehen. Wenn ich es richtig erinnere, haben wir nicht mal die Ebene eines Gespräches geschafft, die irgendwo dort oben in den Sternen zu finden ist. Es gab keine Worte für die Erfahrungen, die wir als Kinder machen mussten, noch nicht. Diese Erfahrungen suchten nach Ausdruck in einer Sprache aus Worten, die wir beide nicht beherrschten. Ich habe nie erfahren, was er mir sagen wollte.“
„Wusste er, dass du eine Beziehung mit einer Frau gehabt hattest?“
„Ja.

… Er tolerierte es, ohne ein Wort zu sagen. Ich fühlte, er lies mir alle Freiheit, er vertraute mir. ...

Wenige Monate nachdem wir zusammen kamen, begann ich eine parallele Beziehung zu einer neuen Frau, die ich nach und nach genauso intensiv liebte, wie ihn. Sie heißt Susanne, ein ganz ähnlicher Name, wie der meines Geliebten.“
„Aber ihr habt nicht wirklich darüber gesprochen?“ Ich muss Anna irgendwie beim Thema halten.
„Nein, ich erinnere mich an kein Gespräch, er wusste es einfach nur, er kannte sie.“

Anna schweigt und es scheint mal wieder, dass sie aus dem Fenster fliegt, ganz weit weg. Ich lasse ihr Zeit, so langsam weiß ich, dass sie in diesen Momenten Ruhe braucht. Alles andere machte noch nie einen Sinn. Ich bekomme sie da nicht zurückgeholt. Ich warte, bis sie wieder da ist.

„Manchmal waren sie beide zur selben Zeit in meiner Wohnung. Diese hatte zum Glück zwei Zimmer, auf der einen Seite die Küche, auf der anderen das Schlaf- und Wohnzimmer. Er in der Küche, sie auf meinem Bett, das tagsüber eher ein Sofa war. Wolfgang und ich, wir waren beide hilflos“, fängt sie nach ein paar Minuten wieder mit Sprechen an. „Wir waren beide zu hilfsbedürftig und zu hilflos. Ich wusste nicht einmal um die Möglichkeit, mit ihm offen zu reden. So etwas hatte ich bis dahin nur mit Katta erlebt, aber sehr einseitig, sie sprach, ich hörte zu, über all meine Grenzen hinaus. Ich glaube nicht, dass Wolfgang Fragen stellte. Ich stellte auch keine. Wir fühlten uns wohl beieinander, das genügte. Es war so viel mehr, als ich bisher kannte.“

„Wie ging es zu Ende?“
„Ich habe Schluss gemacht, ziemlich radikal von heute auf morgen. Ich war überzeugt, dass ich zwei Menschen nicht glücklich machen kann, ja, dass ich womöglich Unglück über uns alle drei bringe. Ich selbst setzte mich unter immensen Druck deswegen und entschied mich für Susanne. Ich folgte blind meiner Sehnsucht. Sie wurde irgendwann alles für mich, sie zeigte mir eine schönere Welt als die Großstadtcafés, in denen ich mit Wolfgang war. Mit ihr konnte ich die Tränen verdrängen, einfach nur Freude leben, das fühlte sich geschützt an. Wir bewegten uns meist in reinen Frauenräumen oder waren einfach zu zweit in der Natur. In den Cafés mit Wolfgang war es möglich, ehrlich zu sein, in meiner Tiefe anzukommen, auch mal alle Tränen fließen zu lassen. Offensichtlich konnte er mich auffangen mit seiner Liebe. Da hatte meine Erschöpfung Raum, einen sehr verzweifelten Raum. Ich war noch keine 23 Jahre alt, ich wollte nicht weinen. Mit Susanne hatte ich Leichtigkeit, es war ein ganz anderes Liebe machen. Da gab es nichts, wovor ich Angst hatte, was mich verunsicherte. Es war rund, weich, es fühlte sich vollkommen an in der Unwissenheit der jungen Frau, die ich war.“

Und da fliegt Anna wieder aus dem Fenster davon, spricht aber weiter: „Ich habe das Gefühl, dass ich ihm Unrecht getan habe. … Nein, ich habe ihm nicht Unrecht getan. Wir waren beide hilflos, alle beide. Auch er hat sein Päckchen mit in die Beziehung gebracht. Wir müssen ein seltsames Paar abgegeben haben.“ Ich kann sehen, wie vor Annas Augen die Bilder ablaufen. Doch sie nimmt mich nicht weiter mit.

„Ich wünsche, dass es ihm gut geht.“, sagt sie und hat Tränen in den Augen. „Entschuldige.“ Anna nimmt ein Taschentuch.

„Es ist in Ordnung. Du weißt, dass ich damit umgehen kann.“ Ich mache eine Pause. „Du bist noch verbunden mit ihm, nicht wahr?“
„Ja, ohne dass ich es wusste. Seit Monaten suche ich in meiner Vergangenheit und immer wieder finde ich noch einen Menschen, der mir eine Zeit lang alles bedeutet hat und den ich hab fallen lassen.“, schluchzt sie, „aus totaler Not heraus, weil ich es nicht besser konnte.“

Jetzt weint sie richtig. Diesmal bin ICH berührt von IHR. „Ich hab so oft Glück gehabt, ich hab so oft Menschen getroffen, die ich lieben konnte und die mich auch irgendwie mindestens sehr gern hatten. Und so oft hat mich meine Vergangenheit gnadenlos eingeholt. So oft.“

„Vielleicht wird es dir helfen, wenn wir unsere Geschichte fertig haben, vielleicht wirst du dann deine Vergangenheit loslassen und dich nur noch von den schönen Erinnerungen nähren können.“, versuche ich sie zu trösten.
„Wirst du denn dann noch da sein?“, fragt sie mich.

„Du wirst mich ja dann in deinen Büchern finden.“ Oh, wie gern würde ich diese Momente in der Arbeit mit ihr einfach aussperren. „Jetzt schaffst du es, auch ohne mich, oder?“, stammele ich mal wieder eine Antwort.

Dann wieder Anna: „Ja, ich will mich an ihnen nähren, an den schönen Erinnerungen. Wolfgang und ich haben einander geliebt und für eine Zeit war es wunderschön. Ich hatte es nur vergessen. Mehr war es nicht. Ich habe mich nicht schuldig gemacht. Und muss keine Scham empfinden. Ich verschenkte meine Weiblichkeit, so wie es Frauen nun eben mal tun.“


3 Falls sie auf mich wartet (Anna, Susanne und Anne)

„Das Land, in dem ich geboren wurde, war ein junges Land und ich war dazu bestimmt, es zu überleben. Genau genommen begann mein Leben erst mit dem Sterben dieses Landes. Ich war erwachsen geworden und endlich frei davon, mich von anderen bestimmen zu lassen, das meinte ich jedenfalls.

Nach kurzer Zeit fand ich das, wonach ich mich so sehr sehnte – meine Liebe. Doch mit all dem Schmerz, den ich aus diesem Land mitbrachte, war meine Liebe nicht lange lebbar. Die Trennung war kaum auszuhalten und geschah mit mir, ohne dass ich sie auch nur annähernd verstehen konnte. Da brach alles in mir zusammen. Ich war zwei Monate nicht mehr arbeitsfähig. Zum Glück waren gerade Sommerferien, was das Studium anging.

Ich wusste, dass auch Susanne nicht allein lebte, mit ihr wohnte eine Anne, die mir sehr ähnlich war. Auch da fragte ich nichts. Aus dem wenigen, das sie erzählte, hörte ich, dass sie in Trennung lebten. Susannes Abschiedsworte für mich waren: Ja, wir waren ja eigentlich zu dritt. Sie wollte nie eine Liebesbeziehung mit mir, die nur aus uns beiden besteht. Kurz nach dem ich Wolfgang wegschickte, ging sie. Und mit ihr ein großer Teil meiner Selbst.

Aus heutiger Sicht zurückschauend würde ich mich an die Hand nehmen und zu mir selbst sagen: Genieße, was dir geschenkt ist, verändere nichts, gar nichts. Es ist doch gar nicht deine Verantwortung. Ja, es war die beste Konstellation, die mir die Götter schenken konnten. Ich hätte sie einfach nur annehmen brauchen. Sie liebten mich alle beide, keiner von beiden aber hätte meinen Schmerz allein mit mir tragen können. Sie hatten doch schon ihren eigenen zu tragen! Als junge Frau sah ich dies alles noch als viel zu selbstverständlich. Als würde es solch große Geschenke an jeder Ecke geben. Aber nichts hier ist selbstverständlich. Nichts. Ja, ich hatte mir selbst ein weiteres Trauma geschaffen. Mir selbst habe ich Unrecht getan."

Schweigen. Es fällt mir schwer, weiter zu atmen. Ich habe keine Fragen mehr an Anna. Diese Gespräche hätte ich mal mit meiner Lony führen sollen. Was hatte wohl sie damals erlebt auf ihrem Weg bis sie mich gefunden hat? Vielleicht wäre sie noch am Leben, wenn ich den Mut gehabt hätte, Fragen zu stellen und zuzuhören. Anna merkt, dass ich nicht mehr kann. Wir umarmen uns schweigend, sie geht. Danke, Anna, in mir bewegt sich was, das ist es, was ich von dir wollte. Ich weine. Es ist nicht Trauer, es ist eine Art Dankbarkeit, eine Berührung, die etwas in mir zum Fließen bringt und Antworten gibt, ohne dass ich die Frage dazu kenne.

...